Initiator*innen: Pascal Striebel/Peggy Hochstätter, B’90 Die Grünen/SPD

Die Bezirksverordnetenversammlung möge beschließen:

Das Bezirksamt wird beauftragt, im Rahmen der bestehenden Kooperation mit dem Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) im Graefekiez einen Feldversuch zur Neugestaltung des öffentlichen Raums durchzuführen.
Im Rahmen dieser Intervention sollen für einen nach wissenschaftlichen Kriterien festgelegten Zeitraum (voraussichtlich zwischen sechs Monaten und einem Jahr) keine privaten PKW im öffentlichen Raum abgestellt werden. Die Straßen im Kiez sollen als Spielstraßen ausgewiesen werden. Die Durchfahrt Schönleinstraße soll zwischen Kottbusser Damm und Urbanstraße eingeschränkt werden.
Das Befahren der Straßen soll jedoch grundsätzlich weiter möglich bleiben. Auch Zu- und Anlieferungen sollen weiterhin uneingeschränkt möglich sein. Die Parkplätze für Menschen mit Beeinträchtigungen sollen erhalten bleiben, ebenso wie weitere Parkmöglichkeiten für stationsgebundenes und auch flexibles Carsharing auf markierten Flächen. Weiterhin soll es ein zusätzliches Angebot für Mieträder und Mietlastenräder geben.
Für die Dauer des Feldversuchs sollen Anwohner*innen ihre Fahrzeuge im Parkhaus Hermannplatz zum Vorzugspreis von 30 EUR pro Monat abstellen können. Weitere Stellflächen sollen nach Bedarf vom Bezirk angeboten werden. Die Flächen des Parkhauses sollen für den Zeitraum des Experiments als Mobilitätsstation mit vielseitigen Sharing-Möglichkeiten eingerichtet werden, um zu untersuchen, wie sich die derzeit weitgehend ungenutzten Parkhäuser als Ressource besser nutzen lassen.

Der Versuch soll durch das WZB wissenschaftlich eng begleitet werden. Im Vorfeld sollen die geplanten Maßnahmen rechtzeitig und umfassend, auch in einfacher Sprache und verschiedenen Fremdsprachen und angekündigt werden.
Es sollen im Rahmen des wissenschaftlichen Arbeitsprogramms die Einstellungen und mögliche Vorbe-halte von Bewohner*innen, regelmäßigen Besucher*innen sowie Gewerbetreibenden in Bezug auf die Maßnahme erhoben werden. Diese Personen sollen nicht nur vor, sondern auch nach Inkrafttreten der Maßnahme in regelmäßigen Abständen wiederholt befragt werden. So sollen Veränderungen in der Haltung gegenüber den Maßnahmen identifiziert werden. Diese Dauerbeobachtung, die sich auf Erfahrungen und Einstellungen der Bürger*innen bezieht, soll ggf. durch eine App-basierte Erhebung von Verkehrsverhalten im definierten Gebiet komplettiert werden. Begleitend sollen Verkehrszählungen durchgeführt werden.
Nach 6 Monaten des Experimentes soll im Rahmen eines Bürger*innen-Festes eine Konferenz unter freiem Himmel auf dem „Zickenplatz“ stattfinden und erste Ergebnisse vorgestellt werden. Eingeladen werden sollen etwa Senats- und Bezirksvertreter*innen, Anwohner*innen, Gewerbetreibende sowie (wissenschaftliche) Vertreterinnen und Vertreter vergleichbarer Projekte im In- und Ausland.
Ein besonderes Augenmerk soll bei der Intervention auf dem Thema Schulwegsicherheit liegen. Zudem soll untersucht werden, wie sich durch eine andere Aufteilung des öffentlichen Straßenraums auch die Situation des Wirtschafts- und Warenverkehr verbessern lässt. Der freie Straßenraum kann auch von Anwohner*innen und Initiativen genutzt werden. Dazu soll das Bezirksamt zusammen mit dem WZB die örtlichen Stakeholder (Schulen, Kitas, Gewerbetreibende etc.) in die Konzeption und Durchführung der Intervention mit einbeziehen.
Die aus dieser wissenschaftlich begleiteten Intervention gewonnenen Erkenntnisse sollen zudem auch genutzt werden, um ein übertragbares „Arbeitsprogramm“ für andere Kieze mit ihren spezifischen Herausforderungen zu entwickeln.
Das Bezirksamt soll der BVV in regelmäßigen Abständen im zuständigen Fachausschuss berichten.

Begründung:

Der Verkehrssektor wird die gesetzlich geforderten CO2-Einsparziele auf absehbare Zeit nicht erfüllen können. Daher braucht es möglichst schnell weitgehendere Maßnahmen. Eine wirksame Klimapolitik erfordert eine Begrenzung des mobilisierten Individualverkehrs (MIV) insbesondere dort, wo ein hoher Siedlungsdruck herrscht und die Bewohner*innen und Besucher*innen ausreichende Alternativen zur Verfügung haben. In einer repräsentativen Erhebung des WZB vom Juni 2021 haben sich rund zwei Drittel der Befragten im Bezirk prinzipiell für solche Maßnahmen ausgesprochen. Die bisherigen Untersuchungen lassen vermuten, dass die überwiegende Mehrzahl der abgestellten Fahrzeuge als sogenannte „Mobilitätsreserve“ genutzt wird, die dann entbehrlich sein könnte, wenn für spontane sowie auch für eine geplante Nutzung Fahrzeuge in unmittelbarer Nähe verfügbar sind. Dadurch könnten Straßenflächen für andere Nutzungsmöglichkeiten frei werden. Dabei sind ganz verschiedene Nutzungsmöglichkeiten denkbar: Nachbarschaftsgärtnern, Xhain-Terrasse, Lieferzone oder Draußensport – je nach Bedarf, Ideen und Unterstützung durch die Anwohner*innen.

Der vom WZB verfolgte Ansatz geht von der Hypothese aus, dass vor allen Dingen das weitestgehend kostenfreie Parken von Fahrzeugen zur hohen Attraktivität des MIV beiträgt. Wenn diese Möglichkeiten nicht mehr gegeben sind, werden sich Menschen von Fahrzeugen trennen und mutmaßlich auch weniger Personenkilometer mit dem MIV absolvieren. Vorausgesetzt ist in diesen Überlegungen aber die Verfügbarkeit von Sharing-Alternativen. Die bisherigen flexiblen und stationären Angebote werden sich unter diesen Bedingungen allerdings neu bewähren müssen. Die zentrale Frage ist, ob die existierenden Zugänge und Tarifmodelle attraktiv genug sind, die bisher gewohnten Nutzungsmuster des privaten Pkw zu ersetzen.
Der geplante wissenschaftliche Feldversuch soll die bereits bestehenden theoretischen Erkenntnisse nun in die Praxis übersetzen. So können wertvolle Erkenntnisse gewonnen werden, wie die dringend notwendige Mobilitätswende so umgesetzt werden kann, dass möglichst alle Menschen davon profitieren.
Der Bezirk wird im Rahmen des Experiments die politische Verantwortung tragen und die straßen- und ordnungspolitischen erforderlichen Maßnahmen wie Kommunikation, Beschilderung, angepasste Straßenführung verantworten. Die beschriebenen Erhebungs-, Auswertungs- und Beteiligungsverfahren verantwortet das WZB und kann dazu sowohl die notwendige fachliche Expertise als auch entsprechende Ressourcen beitragen.

Friedrichshain-Kreuzberg, den 19.04.2022

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