Xhain war schon immer ein besonderer Bezirk. Mit Canan Bayram, die ihr Direktmandat im Bundestag erneut gewinnen will, und Stadträtin Clara Herrrmann, die antritt, um Bürgermeister*in des Bezirks zu werden, stehen zwei erfahrene grüne Frauen bereit, die Probleme anzupacken und Lösungen zu finden. Der Stachel sprach mit ihnen über politische Ziele und gemeinsame Strategien auf den unterschiedlichen politischen Ebenen.
Stachel: Im Bund werden die grundsätzlichen Weichen gestellt, im Bezirk wird Politik sichtbar. Angesichts der verbundenen Wahl im September: Wo stehen wir?
Canan Bayram: Das Thema Nummer 1 ist der Klimaschutz. Aufgabe wird sein, einen sozialen und ökologischen Wandel selbst zu organisieren und in die Hand zu nehmen statt sich den Entwicklungen auszuliefern. Die Schäden, die jetzt entstehen durch verpasste Chancen bei der Gestaltung der Veränderung, werden irreparabel sein.
Clara Herrmann: In diesem Sinne sehe ich diese Wahl als Schicksalswahl. Kriegen wir es hin, den Klimawandel noch zu stoppen? Wir müssen massiv handeln – und zwar jetzt und nicht in 10 oder 15 Jahren. Die Zeichen sind überall sichtbar, ob es die Hitze in Kanada ist, die Hungersnot in Madagaskar, Tornados in Tschechien oder Unwetter und Hochwasser in Deutschland: Die Auswirkungen des Klimawandels werden vor Ort spürbar, auch bei uns im Bezirk. Bei Starkregen kommt es zu Überläufen der Mischwasserkanalisation in den Landwehrkanal und die Spree und die Fische sterben. Unsere Bäume leiden unter Dürreperioden. Das bewegt die Menschen in Friedrichshain – Kreuzberg. Wir wollen den Bezirk noch klimafreundlicher machen: Flächen wieder entsiegeln für Parks statt Parkplätze, grüne Fassaden und Solar auf so viele Dächer wie möglich.
Stachel: Wie kommen wir dabei stärker in die Aktion, wie können wir das beschleunigen?
Clara: Wir zeigen das bereits bei den Pop-up-Radwegen, wir sind dabei, über die Kiezblocks den Durchgangsverkehr aus den Straßen zu bekommen und damit den öffentlichen Raum schrittweise umzubauen. Entscheidend für die nächsten Jahre wird die Frage: Wem gehört der öffentliche Raum? Da verbindet sich alles: Ökologie, Klimaschutz, soziale Gerechtigkeit. Dafür brauchen wir den gesetzlichen Rahmen. Beispielsweise eine andere Straßenverkehrsordnung, die in ihrer heutigen Form vollkommen rückständig ist und die Tempo-30-Zonen verhindert. Dafür brauchen wir den Bund.
Canan: Viele junge Leute denken bereits jetzt durch smarte Modelle und digitale Lösungen das Thema Mobilität ganz neu. Es geht nicht um das Verkehrsmittel oder gar dessen Besitz, sondern allein um die Frage: Wie komme ich von A nach B? Für solche Konzepte gibt es bei uns in Xhain eine hohe Bereitschaft, da brauchen wir kaum zusätzliche Anreize. Aber das ist nicht überall der Fall und wir müssen berücksichtigen, dass die Situation im ländlichen Raum sich anders darstellt als in der urbanen Umgebung. Da kann der Bund Impulse setzen. Dazu gibt es als Anreiz die Idee eines Projekts, bei dem diejenige*, die auf das Auto verzichtet, eine Prämie von 1.100 Euro erhält. Das wäre billiger als die Abwrackprämie (lacht). Vor allem aber müssen Hürden abgebaut werden. Und eine solche Hürde ist tatsächlich die StVO. Sie macht eine menschengerechte Stadt unmöglich, weil dem Auto oberste Priorität eingeräumt wird. Das müssen wir ändern.
Stachel: Ein anderes Kernthema hier ist die Verdrängung. Der Kampf um bezahlbare Mieten, auch für das Gewerbe.
Canan: Da gibt es sogar eine Verbindung – wenn wir das provokativ angehen: Sollen wir Autobahnen zurückbauen und dort Wohnungen bauen …
Clara: …und Parks …?
Canan: Und unsere Frage geht noch weiter: Wer es für legitim erachtet, Grundstücke zu enteignen, um die Bedürfnisse der Autofahrer*innen zu befriedigen, der muss sich auch fragen lassen, warum das Instrument der Vergesellschaftung nicht ebenso angewandt werden kann, um Menschen ein Dach über dem Kopf zu verschaffen. Ein Auto zu benutzen ist die freie Entscheidung der einzelnen*. Wohnen ist das nicht. Wir alle brauchen eine Wohnung. Und damit liegt die Priorität eindeutig nicht bei der Autobahn.
Stachel: Da wird Bundespolitik – leider – extrem sichtbar auch bei uns im Bezirk. Stichwort A 100.
Clara: Der Irrsinn des Ausbaus der A 100 und sogar noch Weiterbaus – der teuersten Autobahn überhaupt – ist Betonpolitik aus dem letzten Jahrhundert. Ich sage: Die darf gar nicht erst eröffnet werden. Die brauchen wir nicht. Überall auf der Welt macht man sich Gedanken, wie Straßen rückgebaut werden können, und wir setzen mitten in die Stadt eine fette Autobahn, für die wir sogar noch Wohnungen vernichtet haben. Das ist Wahnsinn. Aber auch dafür brauchen wir den Bund. Damit diese Autobahn nicht als Autobahn eröffnet wird und damit die Milliarden, die für den Weiterbau vorgesehen sind, zur Verfügung gestellt werden für sozialen Wohnungsbau oder für die Verkehrswende in den Kiezen.
Stachel: Und damit zurück zum Wohnen, zu den Mieten und zum Gewerbe.
Canan: … und zur Frage der Vergesellschaftung. Als ich vor 4 Jahren in den Bundestag gekommen bin, habe ich gesagt, wir müssen alles dafür tun, die Mieter*innen zu schützen. Und wenn die CDU sich weigert, die Mieter*innenrechte zu stärken, dann werden wir nicht darum herum kommen, zu enteignen. Damals haben alle gesagt: „Die spinnt.“ Und jetzt, 4 Jahre später, ist es genau so gekommen, die CDU hat nichts getan und sich großzügig aus der Immobilienwirtschaft unterstützen lassen – die AfD übrigens auch. Und die Initiative“Deutsche Wohnen Enteignen“, die ich von Beginn an unterstützt habe, hat über 300.000 Stimmen gesammelt und überall macht man sich Gedanken, wie man eine Notbremse gegen Verdrängung und steigende Mieten auf den Weg bringt. Manchmal sind wir hier in Friedrichshain-Kreuzberg so eine Art Seismograph.
Clara: Wir machen bei uns im Bezirk sehr deutlich, was mit den Mitteln der Kommunalpolitik möglich ist. Wir haben Instrumente wie das Vorkaufsrecht oder Milieuschutz. Damit können wir Mietsteigerungen oder Luxussanierungen erfolgreich unterbinden. Unser Ziel ist – da sind wir uns einig – 50% Gemeinwohlorientierung am Wohnungsmarkt. Beim Gewerbemietrecht fehlen uns diese Instrumente. Auch beim Mieter*innenschutz geht noch mehr, da ist der derzeitig zuständige Minister im Bund, Horst Seehofer, eine totale Katastrophe. Der Berliner Mietendeckel ist bekanntlich daran gescheitert, weil gesagt wurde, hier sei der Bund zuständig. Also ist auch hier jetzt der Bund gefragt. Zwei Kernfragen stehen damit bei dieser Wahl zur Wahl: Die Klimakrise und die Frage der sozialen Gerechtigkeit.
Stachel: Am Gewerbemietrecht seid ihr im Bund aber schon dran, richtig?
Canan: Zum ersten Mal in der Geschichte des Bürgerlichen Gesetzbuchs haben wir ein Gesetz zum Gewerbemietrecht geschrieben, das liegt bereit. Wir haben sehr viel positive Rückmeldung der Sachverständigen und selbst aus der Immobilienbranche erhalten, die anerkennen, dass dieser Bereich dringend einer Regulierung bedarf. Es geht um den Schutz von Kleingewerbe und kulturellen und sozialen Einrichtungen wie z. B. Kitas. Das ist eine rein grüne Initiative. Außerdem wollen wir den Ländern Möglichkeiten an die Hand geben, bei Bedarf die Miethöhen zu begrenzen. Nicht nur bei Neuvermietung, sondern auch im Bestand. Damit Schluss ist mit der Angst vor Verdrängung. Ein weiterer Knackpunkt ist die Umwandlung von Mietwohnungen in Eigentumswohnungen. Auch hier verfolgt die Union bisher eindeutig die Interessen der Besitzenden.
Stachel: Wer wären denn potentielle Partner für grüne Ideen, grüne Ziele?
Canan: Unser Verständnis der Welt und von Realitäten, wie wir es in Friedrichshain-Kreuzberg leben, finden wir auf Bundesebene bei anderen nicht wieder. Mich erschreckt, wie sehr die Abgeordneten* die Realität der Menschen ignorieren. Sie sehen die Lobby-Interessen. Aber wenn wir die Lebensrealität der Menschen nicht sehen, ist es kaum möglich, gute, gerechte Gesetze zu machen. Bei der Frage der Mieten haben wir ein eklatantes Missverhältnis zwischen der Kraft der Vermieter*innen und der Mieter*innen. Wir brauchen eine Allianz derjenigen, die Mietrecht sozial denken. Das ist für mich beispielsweise mit der FDP nicht vorstellbar. Nur zu regieren reicht da nicht. Daher setze ich mich dafür ein und werde dafür kämpfen, dass wir eine grün-rot-rote Regierung auf Bundesebene bekommen.
Clara: Auf Bezirksebene gibt es keine klassischen Koalitionen. Auf allen Ebenen kämpfen wir erst einmal für starke Grüne. Und für unsere Inhalte. Und wenn ich da beispielsweise auf Landesebene Franziska Giffey höre, die Spitzen-Kandidatin der SPD: Das klingt schon sehr autofreundlich. Unsere grüne Verkehrspolitik folgt der „Vision Zero“ – also keine Verkehrstoten durch sicher Infrastruktur für Fußgänger*innen und Radfahrer*innen. Da geht es nicht um „Bullerbü“, wie Franziska Giffey es geäußert hat, da geht es um Leben und Tod.
Stachel: Die Verschränkungen sind deutlich, wie seht ihr die Zusammenarbeit in der nächsten Legislaturperiode, in jeweils erweiterter Verantwortung?
Canan: Eine spannende Frage für mich ist, wie wir hier im Bezirk ein anderes Wirtschaften erreichen. Können wir ein Modellbezirk sein, der jungen Leuten, die nachhaltig investieren wollen, neue Perspektiven bietet und zugleich vor schädlichen Finanzmärkten schützt? Vor Geldwäsche, vor billigem, schlechten Geld – eine der Hauptursachen für die destruktive Kraft auf dem Wohnungsmarkt. Das spült alles weg, was es sonst an Werten gibt. Da müssen wir nicht nur auf Bundesebene ran, und da steckt mit Dir und Deinen Erfahrungen als Finanzfachfrau und Kompetenzen für den Bezirk ein hohes Potential.
Clara: Ein Großteil dessen, was die öffentliche Hand beschafft, das beschaffen die Kommunen vor Ort. Daher haben wir ein Lieferkettengesetz gefordert, da wir nicht wollen, dass mit unserem Geld Kinder- oder Sklavenarbeit oder ökologische Schweinereien finanziert werden. Da ist es sehr wichtig, auf Bundesebene Canan als erfahrene Juristin an der Seite zu haben. Ein anderes Beispiel ist das Thema Cannabis-Legalisierung. Neben allem , was wir schon angesprochen haben. Ganz wichtig auch die Frage der offenen Gesellschaft. Auch Müllvermeidung, Verbot von Einweg-Produkten – all dies gehört zu dem, wobei der Bund die Rahmenbedingungen schaffen muss, umgesetzt wird es dann bei uns vor Ort.
Stachel: Zum anderen Wirtschaften gehört auch die Kreislaufwirtschaft?
Canan: Es gibt bei uns die Initiative „cradle to cradle“, die ich von Anfang an unterstütze. Ziel ist, schon bei der Herstellung keinen Müll zu produzieren. Und wenn etwas nicht mehr benutzt wird, ist es nicht Abfall, sondern Ressource, die wiederverwendet werden kann. Da müssen wir grundsätzlich hin.
Clara: So schnell wie möglich! Ich habe für den Bezirk als Stadträtin eine Studie für ein Zero-Waste-Konzept erstellen lassen, von der wir bereits Maßnahmen umsetzen: Von Trinkwasserbrunnen gegen die Plastikflaschenflut bis hin zu speziellen Mülleimern für Kippen und Kronkorken. Und Sperrmüll kann mensch jetzt an Aktionstagen direkt im Kiez abgeben.
Stachel: Viele Initiativen gibt es bereits, vieles ist auch in der Umsetzung: Wie schaffen wir es, die Erfolge noch deutlicher in den Köpfen, im Bewusstsein zu verankern? Vielleicht auch den Schrecken vor der Veränderung zu nehmen und klar zu machen, dass der Umbau nicht nur der einzig mögliche Weg, sondern am Ende ein Gewinn für alle ist?
Clara: Mir ist es wichtig, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen, vor Ort zu sein und zuzuhören. Und dann die Dinge umzusetzen. Friedrichshain-Kreuzberg ist für viele ein Sehnsuchtsort. Das liegt an den Menschen, die hier leben, an unserer rebellischen links-alternativen Geschichte. Das gilt für beide Stadtteile.
Canan: Für mich ist wichtig, dass wir ein Mitmach-Bezirk sind. Es leben hier viele, die kein Wahlrecht haben, daher denken wir Beteiligung immer wieder neu. Wir sind stolz auf jede Initiative, die in unserem Bezirk entsteht. Das ist wie Frischluft für die Demokratie. Auch die Kiezblocks, die den Durchgangsverkehr aus den Straßen heraus halten, sind so entstanden.
Clara: Da halten wir auch Gegenwind aus. Oft werden die Ansätze, die wir ausprobieren, zunächst mal belächelt oder angegriffen. Und nicht selten wird es dann anderswo übernommen. Siehe die Parkläufer im Görli oder die Pop-Up Bike-Lanes.
Canan: Und die Kraft aus den Initiativen erweist sich als stärker. So ist es immer ein Miteinander. Wir sind so gut, wie wir die Menschen im Bezirk repräsentieren – sei es als Bürgermeisterin oder im Bundestag. Und für ihre Interessen kämpfen. Dafür sind wir auch bereit, angegriffen zu werden. Das ist für mich grüne Sichtbarkeit.
Clara: Dafür stehen wir und dafür treten wir beide an.
Das Gespräch führte Henry Arnold und es erschien zuerst im Stachel, der bündnisgrünen Bezirkszeitung aus Xhain.