Auch Friedrichshain und Kreuzberg hatten einmal jüdische Gemeinden – eine Spurensuche.
Vor wenigen Wochen wagte die tageszeitung den so genannten Kippa-Test. Sie schickte einen Mitarbeiter mit dieser jüdischen Kopfbedeckung durch Neukölln und Lichtenberg. Die weitaus meisten Passantinnen und Passanten zeigten sich bei der Begegnung mit einem vermeintlich jüdischen Spaziergänger überrascht. Dabei gehörten Kippa-Träger bis in die 30er Jahren hinein zum Straßenbild Berlins. Eine Spurensuche in Friedrichshain und Kreuzberg.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts flohen Tausende Menschen jüdischen Glaubens vor Pogromen aus Osteuropa nach Berlin. Ihr eigentliches Ziel hieß zumeist New York, die Reichshauptstadt sollte Zwischenstation sein. Die Mehrzahl dieser Flüchtlinge kam am Schlesischen Bahnhof, dem heutigen Ostbahnhof, an. Hier boten billige Absteigen und Mietwohnungen eine erste Anlaufstation. Sie sorgten für die Konzentration jüdischen Lebens rund um den Bahnhof. Im Jahre 1925 zählte Friedrichshain circa 8000 Einwohner mosaischen Glaubens. Neben denen, die in zumeist ärmlichen Verhältnissen lebten, gab es jedoch auch solche, die eine kleine jüdische Mittelschicht bildeten. Diese besaß in der Warschauer Straße und in der Großen Frankfurter Straße, der heutigen Karl-Marx-Allee, Arztpraxen und Kaufläden.
Obwohl fünf Prozent der Berliner Juden in Friedrichshain gemeldet waren, gab es für sie mit der privaten Lippmann-Tauß-Synagoge lediglich ein kleines Gebetshaus, dessen feierliche Einweihung im Jahre 1893 stattgefunden hatte. Es lag in der heute nicht mehr existierenden Gollnowstraße – unweit der Mollstraße.
Wie sah es in Kreuzberg aus? Trotz lokaler Konzentration war die jüdische Einwohnerzahl mit circa 6000 Personen überraschend gering. Die aus Osteuropa geflüchteten Menschen jüdischen Glaubens fanden zumeist entlang der proletarisch geprägten Skalitzer Straße eine neue Bleibe. Hier eröffneten sie zahlreiche Gebrauchtkleidergeschäfte. Einen gehobenen Lebensstandard präsentierten dagegen die jüdischen Ärzte und Kaufleute in der Oranienstraße. Dieser Kurfürstendamm des Ostens wies einen Straßenabschnitt auf, der primär von Schuhgeschäften im jüdischen Besitz [z.B. dem Schuhgeschäft Leiser] geprägt wurde. Die in der Umgebung aufgewachsenen Gebrüder Wertheim eröffneten wiederum am Moritzplatz ein imposantes Kaufhaus.
Religiösen Anlaufpunkt bot zunächst eine kleine Synagoge in der Prinzenstraße 71, der späteren Hausnummer 86. Aufgrund des Anwachsens der jüdischen Gemeinde beschlossen Mitglieder den Bau eines größeren Gotteshauses. Es wurde auf dem Gelände eines ehemaligen Molkereibetriebes in der Dresdner Straße errichtet. Heute befindet sich dort ein an das Kino Babylon grenzender Spielplatz. Doch nach wenigen Jahren war auch diese Synagoge zu klein, weshalb bereits im Jahre 1916 ein repräsentatives und mit 2000 Sitzplätzen ausgestattetes Gebäude an das Kottbusser Ufer, das heutige Fraenkelufer, gesetzt wurde. Es war Treffpunkt der orthodoxen Juden, während die liberalen Glaubensgenossen in der Lindenstraße, der späteren Axel-Springer-Straße, zum Gebet zusammenfanden.
Obwohl sich das jüdische Leben äußerst facettenreich darstellte und es Zionisten wie Deutschnationale, Kommunisten wie Orthodoxe gab, konstruierten die Nationalsozialisten den Juden. Einmal an der Macht, töteten sie in ihrem Judenhass 2738 Friedrichshainer und circa 1300 Kreuzberger Bürgerinnen und Bürger.
Infolge der nationalsozialistischen Politik verloren beide Bezirke ihr jüdisches Gesicht. Bei einem Spaziergang weisen jedoch noch heute zahlreiche Spuren auf diese Glaubensgemeinschaft hin. Insofern muss sich niemand wundern, einem Kippa-Träger zu begegnen.
Autor; Alexander Jossifidis