Das Rathaus, Franz Schulz und das Andere

I Die Architekturgeschichte kennt die Unterscheidung zwischen Sakral- und Profanbauten. Während erste als in der Regel prunkvolle Gebäude für kirchliche, respektive religiöse Zwecke die Kommunikation mit dem Jenseits beherbergen, organisieren letzte das strikt diesseitige, weltlich alltägliche Treiben in einer vergleichsweise schmucklosen Erscheinungsform. Beispiele für Profanbauten sind Museen, Universitätsbauten, Bahnhöfe und eben auch Rathäuser. Von denen gibt es in Friedrichshain-Kreuzberg gleich zwei: eines in der Yorckstraße – zwar kein Alleinstellungsmerkmal, aber ein Solitär, ein durchaus eigenwilliger, funktionaler 60er-Jahre Bau mit tragenden Säulen und politisch intendierter, tansparenter Glasfront des BVV-Saales zur Straße hin und ein anderes in der Friedrichshainer Frankfurter Allee, an dem man glatt vorbei läuft. Das Werfen einer Münze(5 DM) musste im Jahr 2000, im Zuge der Fusionierung von Friedichshain und Kreuzberg, über den zukünftigen Sitz des Bürgermeisters entscheiden – das Resultat kann seitdem besichtigt werden, wenn man es denn findet. Und das ist gar nicht so einfach, wie der Autor aus eigenem Erlebten weiß. Die Frankfurter Allee ist auf dieser Höhe um den U-Bahnhof Samariter Str. eine reine Einkaufsmeile mit einer Ladendichte vergleicbar dem Kottbusser Damm in Kreuzberg, und anders als in Neukölln erlaubt die Breite der Bürgersteige zwar kein zwangloses Flanieren, es reicht jedoch, um den hier eindeutig konsumorientierten Bürgern ein relativ unbeengtes Shopping zu ermöglichen. Hier nun mittendrin, nahezu nahtlos eingelagert in diese Konsumzeile, erhebt sich über einer sogenannten „Rathauspassage“ mit Supermarkt, Resteverkäufen und Leerstand mehrstöckig der Sitz des Bürgermeisters samt einiger Dezernenten als eine Verkörperung dessen, was der Volksmund heutzutage eben unter profan verstehen möchte, mit einem Hauch von Prekariat. Nicht jeder der dort umherirrenden, bereits zu späten Besucher hat schließlich das Glück, eine so treffende Auskunft zu erhalten, die sich auch noch zur Überschrift eignet: „Links neben Edeka geht´s zum Bürgermeister!“

II

Aschaffenburg gilt als das Tor zum Spessart und hat wegen seines milden Klimas auch den Beinamen „Bayerisches Nizza“. Die politische Situation erscheint als entspannt und weitsichtig sinnvoll ausgerichtet. Die Aschaffenburger gelten als die „etwas anderen Bayern“ und ihr Gemeinwesen wird schon mal eine „Konsens-City“ genannt. Sogar die CSU verzichtet hier, wie 2006 bei den Wahlen zum Oberbürgermeister, auf einen eigenen Kandidaten, der Harmonie zuliebe. Franz Schulz kommt aus Aschaffenburg. Er verließ nach acht Jahren die Schule, machte eine Lehre zum Fotolithographen und studierte Kunst in Darmstadt, von wo er regelmäßig nach Frankfurt fuhr, um Adornos letzte Vorlesung(1969) zu hören. Er verweigerte den Kriegsdienst und holte in Frankfurt die Schule nach – bis zum Abitur. Das Pensum ist durchaus beeindruckend. Später tauchte er dann noch aus einem richtig langen, dekadenten Studium der Physik promoviert wieder auf, da war es 1985 und noch elf Jahre bis zu seinem ersten Bürgermeister, der Kreuzbergs letzter war. Dass es in Berlin für die zwölf Bezirksbürgermeister nur elf Dienstwagen gibt, liegt an Franz Schulz. Dieser grüne Bürgermeister mag das „Rumkutschieren“ nicht. Er fährt selbst, manchmal sogar Fahrrad. Seine Amtsführung ist eher unbarock, strikt funktional und irgendwie calvinistisch, seine Fachautorität legendär. Inszenierungen seiner Person sind ihm fremd, er agiert mit hoher vertrauensbildender Kompetenz, unaufgeregt und zurückgenommen, so dass der Blick auf andere Facetten seiner Persönlichkeit dem ungeübten Betrachter nur schwerlich gelingt. Doch Franz Schulz ist 68er, und wer als 68er keine wilden Jahre gehabt hat, muss so etwas wie ein schwarzer Schimmel sein. Auf der Agenda 68 stand die Revolutionierung des bürgerlichen Individuums ganz weit oben. Man zog zusammen, um kollektives Wohnen mit politischer Arbeit zu verbinden, oder auch nicht. Jedenfalls waren die heute so genannten alternativen Lebensformen ein zentrales, unverzichtbares Praxisfeld auf dem Weg zur revolutionären Emanzipation und auch Franz Schulz hat da nichts ausgelassen. Zudem hat er als Absolvent der renomierten Werkkunstschule Darmstadt vorzügliches Rüstzeug erworben, um seine Kreativität in künstlerische Bahnen zu lenken, wie man sagt. Dieser Künstler im Bürgermeister ist durchaus vorhanden, kann sich aber in den herkömmlichen Pfaden der Politik nur sehr indirekt realisieren. Das soll sich im Ruhestand ändern, dessen Beginn allerdings noch nicht absehbar ist.

III

„Aber das kannst Du doch nicht schreiben!“, sprach leicht erschrocken der Museumsleiter, als der Autor ihm erzählte, dass Franz Schulz in seinen „wilden Jahren“, einmal geraume Zeit in und aus einem Auto gelebt hatte, welches man für einen Leichenwagen hätte halten können. Nein, das kann man wirklich nicht schreiben. „Hat der Bürgermeister da etwa zur Revolution aufgerufen?“ Diese Frage ruft ungläubige Irritationen auf einer dieser montäglichen Teamsitzungen hervor, zu der sich die Belegschaft des Kreuzbergmuseums allwöchentlich zu versammeln pflegt. Am Samstag zuvor hatte Franz Schulz in seiner Eröffnungsrede zur erfolgreichen Ausstellung „Wagenburg leben in Berlin“ einen antagonistischen Widerspruch zwischen „Wagenburg“ und Museum benannt: ein gesellschaftlicher Gegenentwurf, wie ihn diese alternative Lebensform nun einmal darstellt, hat in einer strikt affirmativen Institution wie einem Museum eigentlich nichts zu suchen, es sei denn, dieses sieht sich selbst gesellschaftskritisch. Wohl wissend, dass durch einen solchen Museumsauftritt das Ringen um eigene und gesellschaftliche Selstverwirklichung nicht etwa bendet ist, hat der Bürgermeister den „Wagenburglern“ alles Gute für den weiteren Kampf gewünscht – zugegeben, normal ist das ja auch nicht.

X-Take09. „Kommste mit? Feuer im Bethanien!“ Diese Worte des Bürgermeisters schrecken offensichtlich nur den gerade im Vorzimmer in Zeitungslektüre versunkenen Autor, der nun schon seit ein paar Stunden Franz Schulz durch dessen Arbeitstag begleitet. Dieser hatte an der Eröffnung der Sanierungsphase der East Side Gallery teilgenommen und auf einer Party des Sozialpsychiatrischen Dienstes einen wackeren Sozialarbeiter in den Ruhestand geschickt und viel mehr an Action hatte der Terminkalender eigentlich nicht vorgesehen. Doch dann das. Bethanien, das Wahrzeichen des alternativen Kreuzbergs, eine sogenannte Herzensangelegenheit für Franz Schulz, befand sich zuletzt wieder in der Diskussion. Ein Teil des Südflügels war seit geraumer Zeit besetzt, die Mietverträge noch nicht abgeschlossen und die Lage war in einem gewissen Sinne heikel. Die Feuermeldung löst einen augenblicklichen Paradigmatawechsel im Kopf des Autors aus, vom Adrenalinspiegel ganz zu schweigen. Die Vernunft verabschiedet sich sang- und klanglos, wird einfach weggepustet. Apokalytische Pyro-Visionen, dumpfe Ängste regieren, und das an der Seite eines Bürgermeisters, der so ist wie immer. Als der Autor ihn später fragen wird, ob er nicht auch Panikattacken geschoben habe, wird er sagen: „Feueralarm gibts jeden zweiten Tag.“ Doch vorerst bleibt unvergessen der alles befürchtende und dann in seiner Wirkung ungemein entspannende Blick in den flammenfreien blauen Himmel über dem Bethanien-Kompex bei der Ankunft am Mariannenplatz nach schweigender Fahrt. Vergessen allerdings konnte man getrost das Feuer. axel w. urban

station to station XVI: die songs

1  under pressure: david bowie & queen

2 heard it through the grapevine: the slits

3 look who´s burning: ice cube

4 who am I: country joe & the fish

5 (I can`t get no)satisfaction: otis redding

6 baby´s in black: the beatles

7 vacant chair: steve winwood

8 the partisan: 16 horsepower

9 immerhinda: fink

10 country honk: the rolling stones

11 wavelength: van morrison

12 thrasher: neil young

13 ideology: billy bragg

14 hard to handle: otis redding

15 alabama song (whisky bar: the doors

16 nothing´s wrong: architecture in helsinki

17 back door man: the doors

18 hard times in new york: bob dylan

19 archangel thunderbird: amon düül II

20 tonight will be fine: leonard cohen