"Es geht hier alles nach Recht und Gesetz in Kreuzberg" – Zum Geburtstag von Werner Orlowsky
Das Jahr 1981 war ein von großen politischen Umbrüchen geprägtes Jahr der Westberliner Politik. Der Sturz des SPD / FDP Senats – wie üblich ein Finanzskandal, diesmal um den Baulöwen Garski – führte 1981 zu vorgezogenen Neuwahlen, aus denen die Alternative Liste zum ersten Mal mit 8,3 % Wählerstimmen in das Abgeordnetenhaus von Westberlin katapultiert wurde. In Kreuzberg erreichten wir zu den Wahlen der BVV sogar den doppelten Stimmenanteil und zogen mit 16 % Wählerstimmen und 12 Bezirksverordneten in die BVV ein. Dort war die AL seit der Wahl 1979 bereits mit drei Bezirksverordneten vertreten.
Der politische Wechsel in Berlin-West 1981
Nach dem Proporzsystem stand damit der Fraktion der AL das Vorschlagerecht für einen Stadtratsposten zu. Hier kam für uns nur der Posten des Baustadtrates in Frage. Diese politische Verwaltungsposition galt es zu besetzen, um entsprechende politische Einflussnahme auf den Prozess der Kreuzberger Sanierung unter der Prämisse der „behutsamen Stadterneuerung“ durchzusetzen. Es galt eine völlig verfehlte Modernisierungs- und Sanierungspolitik des Senats umzudrehen. Den Prozess der Stadterneuerung auf die Bedürfnisse und Interessen der Bewohner, Mieter und Gewerbetreibenden auszurichten und mit ihnen in demokratischen Beteiligungsformen über Stadtteil- und Mieterbeiräte umzusetzen.
Instandbesetzerbewegung und Sanierungspolitik
Neben der Herkulesaufgabe der Umdrehung der Sanierungspolitik ging es, politisch aktuell, allerdings zunächst primär um die Sicherung und die Legalisierung der Instandbesetzerbewegung, die Durchsetzung von Träger- und Organisationslösungen, die die instandbesetzten Häuser in legale Formen überführen sollten und um die Entkriminalisierung der Instandbesetzer. Provoziert durch eine massive Vertreibungsstrategie der damaligen Sanierungspolitik, in deren Folge ganze Wohnblöcke in den Sanierungsgebieten entmietet wurden, während gleichzeitig eine riesige Nachfrage nach preiswerten Wohnungen herrschte, entstand die Instandbesetzerbewegung. Die ersten Besetzungen erfolgten schon in den 70er Jahren zunächst als soziale Projekte linker Gruppen (Teilbesetzung des ehemaligen Bethanien Krankenhaus als „Georg von Rauch Haus“, Wilhelmstrasse „Tommy-Weißbecker“ Haus) und dann ab 1980 als Gegenwehr gegen die Planungsbürokratie und Sanierungsgesellschaften und deren Wohnraumvernichtungsstrategie in den Altbauvierteln. In rascher Folge griff diese Bewegung auf die Schöneberger und Charlottenburger Sanierungsgebiete über. Im Frühjahr 1981 waren bereits 165 Häuser besetzt und im Höhepunkt der Besetzerbewegung kletterte diese Zahl auf über 180 Häuser. Eine Besonderheit dabei war die Solidarisierung mit dieser Bewegung bis hinein in Teile bürgerlich liberaler Kreise (bspw. Übernahme von Patenschaften für besetzte Häuser) unter wohlwollendem Zustimmungsmurmeln des „gemeinen“ Berliners.
Unter dem verstärkten politischen Druck sah sich der Berliner Senat gezwungen – noch unter SPD / FDP Regie – die sogenannte „Berliner Linie der Vernunft“ anzukündigen: Räumung der besetzten Häuser nur nach Strafantrag und dem Vorliegen einer Baugenehmigung. Besetzte Häuser sollten um Legalisierung verhandeln. Trotzdem gab es den Versuch weiterer Räumungen, insbesondere als der CDU / FDP Minderheitensenat nach der Wahl 1981 mit dem Innensenator Lummer die Räumungspolitik wieder verschärfte. Es kam permanent zu schweren öffentlichen Auseinadersetzungen zwischen Instandbesetzern, Unterstützern und der Polizei: Barrikadenbau gegen Räumung, Demonstrationen mit erheblichen polizeilichen Übergriffen, wiederholte rechtswidrige Einkesselung von Demonstranten, eine aggressive Staatsanwaltschaft, die sogar Strafanzeige gegen den damaligen Polizeipräsidenten Hübner stellte, weil dieser sich weigerte, aus Verhältnismäßigkeitsgründen Hausdurchsuchungen in besetzten Häusern anzuordnen. Zahlreiche Verletzte und ein Toter durch Polizeiaktionen (Rattey 22.09.81) waren in diesem Jahr zu beklagen.
Der Baustadtratsposten für die Alternative Liste
In diesem Hexenkessel galt es jemanden zu finden, der in der Position des Baustadtrates politisch Position beziehen konnte. Schon aus der Tatsache heraus, dass die Kreuzberger AL zu großen Teilen aus Aktivisten der Mieter- und Stadtteilbewegung stammte und aktiv an Instandbesetzungen und gegen die Sanierungspolitik des Senats kämpfte, war klar, es musste ein Vertreter dieser Bewegung sein. Die Wahl konnte nur auf Werner Orlowsky fallen.
W. Orlowsky war schon im Januar 1981 als einer von vier Vermittlern vom Besetzerrat bestimmt worden. Auf seine Initiative hin entwarf man das sogenannte Käseglockenmodell als Treuhandlösung, an dem sich allerdings Verhandler und Nichtverhandler letztlich auseinanderdividierten. W. Orlowsky war da schon ein verhandlungsgeschickter Kommunikator, wie auch einer, der die Problemlage im Kiez genau kannte aber dabei entschlossen Position bezog. Im Mieterladen Dresdner Strasse hatte er bereits Front gegen die Berliner Sanierungspolitik gemacht. Dies zu einem Zeitpunkt als sich der Widerstand erst langsam aufbaute. Er hatte also von vorneherein das Vertrauen der Betroffenen. Und er besaß das Wissen, das Können und die Rethorik, es mit den verwaltungspolitischen Blechrednern des Berliner Bürokratenapparates, den bräsigen und sich hinter ihre Auftraggebern verschanzenden Vertretern der städtischen Wohnungsbaugesellschaften sowie den spekulationsfiebrigen privaten Investoren aufzunehmen. Vor allem konnte er durch sein Auftreten den etablierten bürgerlichen Politikern Paroli bieten, Position beziehen und gleichzeitig verbindlich verhandeln, ohne das eigentliche politische und soziale Interesse aus den Augen zu verlieren.
Mit der SPD in Absprache – nach langem und zähem Verhandlungsmarathon – wurde W. Orlowsky schließlich gewählt. Die SPD war auf Berliner Ebene geschlagen und wollte wenigstens in den Bezirken, vor allen Dingen in Kreuzberg, noch politischen Einfluss geltend machen. Doch von da an bestimmte Gangart und Richtung der Stadtentwicklungspolitik in Kreuzberg W. Orlowsky als Baustadtrat. Dies mit Unterstützung der AL und der Mieter- und Bürgerinitiativen. Ferner ist die IBA – Altbau unter ihrem Direktor Hämer nicht zu vergessen. Das war denn auch der Grund, warum ihn die SPD nach vier Jahren nicht mehr wählen wollte.
Behutsame Stadterneuerung
In dieser ersten Legislaturperiode von 1981 bis 1985 wurde einiges erreicht. Umsteuerung der Sanierungspolitik unter der Prämisse der „behutsamen Stadterneuerung“, Beteiligung der Bürger in allen Stadtteilfragen von Modernisierung bis Straßengestaltung, Durchsetzung der Linie Instandsetzung geht vor Modernisierung, Beibehaltung eines preisgünstigen Mietniveaus nach Modernisierung und Instandsetzung, Legalisierung eines Großteils der instandbesetzten Häuser in Kreuzberg, entweder über Mietverträge oder über genossenschaftliche Trägermodelle wie den Block 103 am Heinrichplatz oder die Regenbogenfabrik in der Manteuffelstrasse.
In all diesen Auseinandersetzungen war W. Orlowsky ein wahrer Fuchs im Hühnerstall der Senatsbürokratie und der von diesen durch hohe Subventionsleistungen abhängigen Wohnungsbaugesellschaften sowie immer geldknappen aber profitheischenden privaten Investoren. Mit der Baugenehmigung war ein Steuerungsinstrument gegeben, welches zunächst jedes Räumungsverlangen wirkungsvoll aufhalten konnte. Denn dies war nach der Berliner Linie ein formales Junktim für ein Räumungsverlangen. In anderen Bezirken wurde diese Linie zwar durchbrochen, in Kreuzberg aber durch vielfältige Vernetzung und unter der Wacht des Baustadtrates eingehalten.
Unter Orlowsky bildete sich ein Sonderausschuss, der mit dem Besetzerrat von Kreuzberg korrespondierte und öffentlich für eine Entkriminalisierung der Instandbesetzer eintrat. Es gelang Orlowsky sogar aus Gründen der Einstimmigkeit auch die drei CDU Mitglieder dieses Ausschusses – unter ihnen ein Kriminalkommissar – zur Unterschrift unter diese Erklärung zu bewegen. Ebenso konnte in zähen Verhandlungen den städtischen Wohnungsbaugesellschaften und einem Teil der privaten Investoren eine Erklärung für einen faktischen Räumungsstop abgerungen werden.
Soziale Frage, gesellschaftliche Macht und Herrschaft
Was W. Orlowsky auszeichnete war die klare Erkenntnis, dass die Erringung eines Gemeinschaftsfriedens, die Umsetzung der behutsamen Stadterneuerung und die Durchsetzung der Bewohnerinteressen gegen die privaten ökonomischen Sonderinteressen von Wohnungsbaugesellschaften durchzusetzen waren. Insbesondere der privaten Spekulation, die durch die Berliner Subventions- und Sanierungspolitik enorm angeheizt wurde, musste effektiv entgegengetreten werden. Legendär ist sein immer wiederholter Ausspruch „es geht hier alles nach Recht und Gesetz“ wenn mal wieder ein spekulativer Investor – denn das waren sie alle – oder die rechte Opposition der CDU meinte, man müsse einem alternativen Baustadtrat das Baugesetzbuch zur Untermauerung seines spekulativen Bauverlangens unter die Nase reiben.
Andere, durch Orlowsky durchgeführte Aktionen rückten die besonderen Kreuzberger Probleme wirkungsvoll in das Blickfeld der Öffentlichkeit. Der CDU Senat strich 1984 wegen angeblich zu hoher Kosten das für Kreuzberg im mittelfristigen Finanzplan vorgesehene öffentliche Bad auf dem Gelände des ehemaligen Görlitzer Bahnhofs (heute Spreewaldbad) In einer inszenierten Badeaktion unter den Klängen einer schrägen Blaskapelle ging der Baustadtrat in einer Blechbadewanne baden. Organisiert war das Ganze von der Bürgerinitiative SO 36 und dem Mieterladen Dresdner Strasse. Das Presseecho war entsprechend aber die daran anschließende Bearbeitung dieses Bauverlangens von Orlowsky umso intensiver. Es gelang ihm unter Einholung alternativer Kostenangebote und einer beispiellosen internen Kampagne mit Unterstützung der BVV und der Stadtteilinitiativen einen Bauträger ausfindig zu machen. Die CDU dermaßen unter Druck gesetzt, musste dem nachgeben und so steht heute das von der CDU nicht gewollte Spreewaldbad.
W. Orlowsky, der nie Mitglied der AL oder der GRÜNEN wurde, bestach durch seine Haltung, sich nie mit den Herrschenden gemein zu machen. Mit leicht verschmitzter Ironie und gewaltigen Rednerfluss aber dabei niemals verbissen, taktierte und diskutierte mit dem politischen Gegner. Hellhörig und exakt die Fallstricke erkennend, die die jeweilige Politklasse mit ihrer Herrschaftshierachie und verlogenen Rethorik im politischen Tagesgeschäft ausbreitet, stritt er konsequent für die sozialen und ökonomischen Interessen der Betroffenen. Werner Orlowsky war und ist es noch – ein Demokrat, der wusste, dass, um ein solcher zu sein, es auf die soziale Frage ankommt. Im Blickpunkt stand für ihn daher auch die Verfügungsfrage, wer was auf Grund seiner gesellschaftlichen Stellung und seiner Verfügungsmacht entscheidet und welche gesellschaftlichen Kräfte und Interessen sich dahinter verbergen. Ein Politikertypus, wie ihn man auch heute bei den Grünen nicht mehr so einfach findet.
Natürlich konnte dies alles nur getragen werden von einer breiten Unterstützungsbewegung von unten gegen die da oben. Ein Einzelkämpfer war Orlowsky daher nicht, aber dafür solidarisch mit denen, deren Interessen er vertrat und die die breite soziale Bewegung damals bildeten. Nach Ende der Legislaturperiode erreichte die AL in Kreuzberg 25,8 % Stimmenanteil und vier Jahre später 1989 nach einer zweiten Periode mit W. Orlowsky als Baustadtrat 28,8 %. Danach verabschiedete er sich, ging in den verdienten Ruhestand, betrieb aber noch lange Zeit das alternative „Stadtforum von unten“.
Als immer noch Jazzfans und in der Literatur von Hegel, Marx, Adorno und Sartre bewandert, wünschen wir ihm noch den Beat von Paul Gonzalves, mit seinen 27 Chorusen, in der Duke Ellington Big Band auf dem legendären Jazzfestival in Newport (USA). Möge es für ihn weiter so grooven. Sergij Goryanoff