Der Zeitgeist stellt unser Dasein auf den Kopf, unsere Wahrnehmungen über das soziale und berufliche Umfeld werden umgekrempelt, neu definiert. Ganze Branchen werden in ihrem Knochenmark getroffen: Kultur, Gastronomie und Handel. Währenddessen marschieren selbsternannte „Querdenker“ durch das Land und beschweren sich über die „Diktatur“. Sie scheuen nicht den Vergleich zwischen Deutschland und Nord-Korea.

Die Demonstrant*innen, die den „Sturm auf Berlin“ beschwören, haben lange darauf gewartet, dass ihre Rhetorik und ihr Diskurs salonfähig werden. Gruppierungen unterschiedlicher Motivationen wie Esoteriker*innen, Coronaleugner*innen, Neonazis, Reichsbürger*innen und AfD-Mitglieder laufen jede Woche Seite an Seite. Das Klima ist rau: in der Stadt, im Bezirk und im Kiez. Die Populist*innen leben nicht mehr JWD, sondern sind mitten unter uns. Sie lehnen sich immer mehr aus dem Fenster und nehmen für sich in Anspruch „Das Volk“ zu sein.

Wer glaubt, Solidarität sei in Deutschland selbstverständlich, darf daran erinnert werden, wie es bei der ersten Welle in den Regalen der Supermärkte ausgesehen hatte. Als es um Nudeln, Klopapier und Hefe ging. Das Zwischenmenschliche im Alltag wird immer knapper. Die Praxis des Denunzierens und Intrigierens erfährt Hochkonjunktur. Ein Mitbewohner aus meinem Kiez, sonst sehr in sich gekehrt, stellte sich als Querdenker heraus und tobt sich jetzt im Telegram-Kanal mit Gleichgesinnten aus. Das ist zwar nicht überraschend, aber doch sehr verstörend.

Die Zukunft beginnt jetzt

Wir können den Welthunger nicht lösen, aber wir können ihn abmildern, wenn wir vor unserer eigenen Tür anfangen. Woanders, weit weg aus dem eurozentrischen Weltbild, werden die Menschen ihrer Lebensgrundlagen beraubt.

Kinder und Jugendliche suchen auf Elektronikschrottdeponien in Ghana Gold und Kupfer für einen Hungerlohn, um ihre Familie über den Tag zu bringen. In Südostasien landet unser Müll mit den Schwindeletikett „Rohstoffverarbeitung“ und trägt zur sozialen Ungleichheit zwischen oben und unten bei. Eine wirtschaftliche Zusammenarbeit auf Augenhöhe, um den Menschen vor Ort eine Perspektive zu geben, sieht anders aus. Wir müssen über den Tellerrand Europas hinausdenken und lokal handeln, um Grundlegendes zu verändern.

Mit Begegnungsstätten, mit kreativen Werkstätten, mit der Verbreitung von Baumpatenschaften, Räumen für Frauen mit Migrationsbiographien, fundierter Beratung und Begleitung in Notsituationen können wir den Bezirk lebenswerter gestalten. „Lebensqualität für alle“ muss mehr als nur eine Floskel oder ein Lippenbekenntnis sein, und mit Leben und mutigen Ideen gefüllt werden.

Umso begrüßenswerter ist es, dass Clara Herrmann, Kandidatin fürs Amt der Bezirksbürgermeisterin, bei ihrer Bewerbungsrede den Agenda-Punkt „Zero-Waste-Bezirk“ nannte. Ein mutiger, aber doch längst fälliger Schritt in Richtung Zukunft. Es ist schon 5 nach 12.

Gemeinsam für einen lebenswerten Bezirk

Wenn Eigentümer*innen und in deren Auftrag Hausverwaltungen die Häuser lediglich als Geldanlage ansehen und insbesondere Mieter*innen mit Migrationsbiographien verdrängen, muss diese Entwicklung mit grüner Unterschrift radikal gestoppt werden. Die Essenz des Bezirks steht auf dem Spiel. Bis alle betroffenen Häuser zurückgekauft werden können, müssen andere Lösungsansätze gesucht werden.

Wir wollen in einer Umgebung leben, in deren Nachbarschaft Denunziation kein Thema ist, in dem Hass für anders Denkende und Fühlende keinen Platz einnimmt. Gerade in Berlin soll es für jeden Lebensentwurf und für jedes Lebensgefühl Raum geben. Das Bezirksamt muss juristisch in die Lage gebracht werden, effektiver als bisher, alternative Projekte und Kollektive vor Investoren, und deren Hunger nach Profit zu schützen. Richter*innen müssen geschult werden, um bei spezifischen oder sensiblen Frauenthemen im Sinne der Frauen besser entscheiden zu können.

Solche Projekte machen aus dem Bezirk was er ist: Eine Melange aus unterschiedlichen Lebensentwürfen und Menschen mit allerlei Perspektiven. Nicht Besserwisser*innen oder Obrigkeitsfetischist*innen, sondern Menschen mit Gemeinsinn und Verantwortungsbewusstsein machen den Kiez lebenswert.

Es gibt viel zu tun: „Packen wir es an“. Gemeinsam und mit grüner Hartnäckigkeit, Weitblick und Kreativität.

 

Fátima Lacerda, Kandidatin für die BVV

Dieser Artikel erschien zuerst im Stachel, der bündnisgrünen Parteizeitung aus Xhain.